Mittwoch, 3. August 2011

Fishbowl Wonderland: Kapitel 2.1



Kapitel 2
Fishbowl Wonderland


Wann genau bemerkt ein Mensch eigentlich das er in eine unangenehme Geschichte geraten ist? Natürlich, meistens immer dann wenn er schon so tief drin verwickelt ist das es keinen Ausweg mehr gibt.
Damals, mit dreiundzwanzig wusste ich sofort welche Frau ich einmal heiraten will. Vermutlich hätte die ältere Generation Alessia und mich als frühreif bezeichnen können. Alle Erwartungen die ich bis dahin an mein Leben hegte lösten sich ganz langsam wie ein wunderschöner Traum in Luft auf. Gerne hätte ich Film oder Literatur studiert. Ein unbesorgtes Leben ohne Geldprobleme führen und durch meinen eigenen Erfolg reich werden. Naive Träume eines Teenagers. Nach meiner mittleren Reife entschied ich mich dazu Versicherungskaufmann zu werden. Der Sklave einer Dortmunder Versicherung zu sein barg tatsächlich keinerlei Vorteile. Auch nicht wenn man ausgelert hat. Alessia war sozusagen die letzte Erwartung an mein Leben die sich bis dahin noch nicht in Luft aufgelöst hatte. Durch ihren sinnlosen Tod rieten mir meine Eltern vielleicht mein Abitur nachzuholen und zu studieren. Am besten Dortmund zu verlassen. Kühle Worte von den eigenen Eltern. So waren sie immer. Doch was gab es in Dortmund für mich noch zu verlieren?
Meine Eltern hatten vollkommen recht. Die Frage war nur, ob ich einen Neuanfang wagen würde. Heute würde ich Jederzeit irgendwo anders ganz von neuem beginnen. Doch zur damaligen Zeit fehlte mir die Motivation so etwas zu tun. Verständlich.

Doch schließlich kommt immer alles anders. Als ich damals gemeinsam mit Kitamura und den Kommilitonen mitgegangen war um an einer ganz persönlichen Trauerfeier teilzunehmen, war mir noch nicht klar was als nächstes passieren würde. Ich war nicht das erste Mal in Kitamuras Wohnung. Und ich wusste das ungefähr zwanzig Leute sein eher kleines Apartment sprengen würden. Trotzdem kamen wir alle irgendwie und irgendwo unter. Einer der Studenten saß sogar auf einer leeren Bierkiste. Das Apartment war zwar klein, aber es reichte für Kitamura vollkommen aus. Es war sauber und alles war ordentlich eingerichtet. Die eingerichteten Zimmer standen im ständigen Kontrast zwischen westlicher und fernöstlicher Kultur. Seine Liebe zu Europa erkannte man an jedem Winkel. Das Apartment befand sich im zehnten Stock eines Hochhauses. Dementsprechend stickig war die Luft natürlich. Dennoch war die Luft längst nicht so erdrückend und schwer wie auf dem Begräbnis. Die Stimmung wurde lockerer und ich musste nicht Alessias arroganten Vater erdulden.

Wir machten es uns in Kitamuras Wohnzimmer gemütlich. Ich entledigte mich meinem Jackett und konnte mich nun, trotz der vielen Gespräche die mich umgaben, entspannen. Kurze Zeit später betrat auch Kitamura das Wohnzimmer, in seinen Händen eine ziemlich große Flasche Champagner Auf dem Etikett stand Louis Roederer. Mit Champagner kannte ich mich nicht aus, aber ein Freund erklärte mir ein anderes mal das diese Marke zur gehobenen Klasse der Schaumweine gehöre. Woher er diese Flasche hatte, oder in welcher Preisklasse sich der Inhalt befand war mir unbekannt. Meine erste Beerdigung, mein erster Champagner.

Kitamura ergriff das Wort und bat um einen Moment der Ruhe.
>>Diese Flasche habe ich mir eigentlich für den Moment meiner Abreise aus Deutschland aufgehoben. Natürlich wollte ich sie mir so oder so mit einigen von euch teilen. Nun muss ich die Flasche aber leider schon vorher öffnen. Es umgibt mich eine tiefe Trauer das es auch noch zu solch einem Anlass geschieht. Trotzdem möchte ich, dass wir auf die Seele unserer scharfsinnigen Alessia anstoßen. Möge ihr Geist uns auch weiterhin erleuchten. Kanpai!<<

Namu Amida Butsu

Der Champagner leerte sich schnell. Einige Studenten sorgten noch für neues Bier. Ich unterhielt mich mit niemandem. Dies verhalf mir unter anderem etwas meine Gedanken zu sammeln. Als ich gerade einen Dose Bier öffnete setzte sich Kitamura zu mir.
>>Es fällt mir schwer dich zu bitten, aber könnten wir gleich eine Weile unter vier Augen reden? In meinem Arbeitszimmer<<, sagte Kitamura und ich vernahm dabei deutlicher als zuvor seinen charmanten, japanischen Akzent.
>>Natürlich<<, antwortete ich nüchtern.
>>Komm in fünfzehn Minuten in mein Arbeitszimmer. Ich muss noch etwas vorbereiten.>>

Etwas vorbereiten meinte Kitamura. Was er damit wohl meinte?
Ich machte mir nicht weiter Gedanken darüber.
Eine Studentin legte eine CD in die Dolby Anlage und regelte die Lautstärke auf einen leisen Pegel. Es lief Growing Old is geetting Old von den Silversun Pickups. So nahmen also Studenten Abschied von einer Kommilitonin. Es war eine ausgelassene, kleine Feier. Ich musste mehrmals darüber nachdenken wie heuchlerisch und düster es auf der offiziellen Trauerfeier zuging die von Alessias Familie organisiert wurde.
Die meisten von ihren Uni Freunden kannten mich nicht. Für die war ich wohl ein völlig Fremder in diesem Raum. Nicht im Traum hätten sie daran gedacht das ich Alessias Verlobter war. Die Personen, denen sie mich damals vorstellte, teilten mir ihre ihre tiefste Anteilnahme mit. Einige male streiften meine Blicke ein paar Studentinnen. Ein paar von ihnen konnte man als echten Blickfang bezeichnen. Doch zugleich ermahnte ich mich selbst für solche Gedanken. Ich entschloss mich dazu Kitamuras Arbeitszimmer einen Besuch abzustatten. Was auch immer er wollte, er möge sich beeilen. Ich sehnte mich nach ein bisschen Schlaf.

Auf den Weg ins Arbeitszimmer kam mir ein Student entgegen der gerade von der Toilette kam. Seine Erscheinung hätte man umgangssprachlich wohl als Nerd bezeichnen können. Zudem schien er angetrunken zu sein. Er trug eine große Brille und passend dazu genau so langweiliges, zerzaustes, ungepflegtes Haar. Sein Anzug machte einen solch trostlosen Eindruck das man hätte denken können er habe schon viele Beerdigungen hinter sich. Ohne das sich unsere Blicke trafen schwatzte er mir ein Gespräch auf.

>>Hör mal.....<<, sprach er im säuselndem Tonfall. Er hatte keine Ahnung wer ich war.
>>Was gibt’s?<<, fragte ich ungewöhnlich locker.
>>Es ist so.....<<, er musste wohl noch einmal überlegen was er überhaupt sagen wollte. >>Es ist so, alle Frauen sind vergeben.>>
>>Ist das so?<<, fragte ich unbeeindruckt.
>>Aber klar. Alle Frauen sind vergeben. Und die, die nicht vergeben sind behaupten sie seien es. Dies liegt aber nur daran, wenn man ein nichtssagendes Gesicht und einen eigenwilligen Charakter hat. Sieht man gut aus, hat einen tollen Körper und ist vom Charakter her ein totaler Stereotyp, sind selbst die vergebenen Frauen wieder Single.>>
>>Was unterstützt deine Theorie?<<, fragte ich mittlerweile interessierter.
>>Na Ich! Schau mich an. Keine Frau sehnt sich nach einem Typen wie mir. Würde ich ehrlich gesagt auch nicht, wäre ich eine Frau. Natürlich greifen sie auf einen Kerl zurück der gut aussieht und ein Auto fährt. Blechgeile Weiber. Und die Tussis aus unserem Kurs sind nicht anders.
Ich hätte gedacht, dass zumindest Studentinnen etwas heller sind. Ich bin zwanzig und immer noch Jungfrau.>>
Ich machte mir kurz Gedanken über die Worte des jungen Studenten. Er war zwar angetrunken, wusste aber ganz genau worüber er sprach. Und er wusste ebenfalls das er dies nur einem Fremden erzählen konnte. Aber er hatte recht. Die Liebeswelt ist auch Heute noch ein hart umkämpfter Markt. Aber folgende Devise gilt immer: Um einer hübschen Frau näher zu kommen muss man sich manchmal wie ein Arschloch benehmen.

>>Eine Trauerfeier ist eine verdammt schlechte Party um zu flirten, aber Heute ist Freitag und der Abend ist noch jung. Du scheinst gerade locker drauf zu sein, frag ein Mädchen ob sie Lust hat Heute Abend was zu unternehmen<<, riet ich dem Studenten.
>>Lass mal gut sein Kumpel>>, kicherte er, klopfte mir auf die Schulter und ging zurück ins Wohnzimmer zu den anderen.
Komischer Vogel. Möglich das er gar nicht wusste auf wessen Trauerfeier er sich überhaupt befand.

Doch was war eigentlich in mich gefahren? Ich gab Studenten auf der Trauerfeier meiner verstorbenen Verlobten Flirt-Tipps. Ich schien in der Tat noch sehr verträumt zu sein. Vielleicht war es aber auch die Müdigkeit die mir zu schaffen machte.
Aus Kitamuras Arbeitszimmer hörte ich wie Finger auf eine Tastatur hämmerten. Ich klopfte an und trat ein. Zum ersten Mal sah ich Kitamuras privatestes Gemach. Hier fühlte er sich wohl. Dies sah man dem gemütlich eingerichteten Arbeitszimmer sofort an als man es betrat. Hier hätte sich vermutlich jeder wohlgefühlt. Da Kitamura ein Literaturfanatiker war, befanden sich gleich drei volle Bücherregale in diesem Zimmer. Der Drehstuhl auf dem er saß war ein bequemer Chefsessel mit Lederbezug. Auf seinem Arbeitstisch lagen viele Dokumente ordentlich aufeinander gestapelt. In der Mitte dieses Tisches thronte sein Notebook. Das Zimmer war umhüllt mit einer angenehm kühlen Luft. Kitamura war wohl so vertieft in seiner Beschäftigung das ich mich räuspern musste damit er überhaupt bemerkte das ich bereits direkt vor ihm stand. Er bemerkte es anschließend und schenkte mir ein freundliches Lächeln. Auch Kitamura hatte sich seines Jacketts entledigt und saß nun mit aufgeknöpftem Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, in seinem Chefsessel.

> >Was sich nun am besten als Sprungbrett eignet, ist eine Frau., schrieb Akutagawa einst in seiner Erzählung: Das Leben eines Narren. Jeder der sich mit seinem Leben befasst hat sollte wissen das er mit Sprungbrett den Freitod meinte.
Er war letztendlich eine einsame Person. Ich wüsste gerne wie ernst er es mit diesem Zitat meinte. Ich bin ein großer Bewunderer seiner Texte. Trotz der Gesellschaftskritik und Einsamkeit spenden seine kleinen Geschichten mir doch immer wieder Trost. Hast du dich jemals für das interessiert was Alessia gelesen hat? Hast du dich überhaupt für das interessiert, was sie interessierte? Bitte sei ehrlich wenn du mir diese Frage beantwortest.>>

Kitamura sprach in beinahe weisen Tönen zu mir. Nun kam er auch noch mit solchen Brechern auf mich zu. Dabei befanden sich doch gerade Logik und Verstand meiner Seele auf einer einsamen Insel. Sie waren damals in dieser Situation unerreichbar für mich. Trotzdem musste ich ihm irgendwie antworten.
>>Nein. Nicht wirklich. Ich konnte mich für ihre Faszination der japanischen Kultur gegenüber nie wirklich interessieren. Aber was spielt das denn jetzt noch für eine Rolle? Ich würde lügen wenn ich sage das sie sich für das interessierte was mir Spaß macht.<<
Er dachte kurz über die von mir ausgesprochenen Worte nach und schenkte mir anschließend einen Blick dem ich nicht ausweichen konnte. Danach fuhr er mit seiner Ansprache fort. Sollte dies etwa eine Belehrung werden? Würde mir nun ein Mann von gerade mal dreißig Jahren eine Predigt halten was ich in der Beziehung hätte besser machen können? Dabei war es doch er selbst, der ohne zu zögern seiner Familie den Rücken kehrte und den Job als Gastdozent hier in Deutschland annahm.

>>Genau da liegt das Problem>>, stimmte er an. >>Du hast an rein gar nichts Spaß, Leon. Wir kennen uns nun seit knapp zwei Jahren, und jeder Mensch der auch nur etwas mit seinem Verstand anzufangen weiß, bemerkt, was für ein unglaublich langweiliger Mensch du bist. Du bist Versicherungskaufmann geworden. Du hast mir nie etwas über deine Hobbys erzählt. Du lebst von den einen in den nächsten Tag hinein. Du hast dich praktisch bereits aufgegeben. Du hast dich an deine Verlobte geklammert. Sie war dein Leben. Und ich beneide dich um diese Einstellung einer Frau gegenüber. Ein aufrichtiger Kerl, ehrlich und treu. Doch was wusstest du eigentlich über Alessia? Kannst du dir vorstellen das sie bei mir im Kurs praktisch eine völlig andere Person war? In deiner Anwesenheit hielt sie sich so gut es ging zurück über ihre Interessen zu sprechen. Doch sobald mein Kurs begann ging sie in sich auf. Sie war ein tiefgründiger Mensch. Noch viel tiefgründiger als ich es wahrscheinlich je sein werde. Sie faszinierte mich noch viel mehr als..... Lassen wir das. Ich bin nicht hier um dir armen Kerl eine Predigt zu halten. Ich will nur das du dir im Klaren darüber bist, das du deine eigene Verlobte vielleicht gar nicht kanntest. Ich will nun, dass du das, was ich dir nun überreiche, ernst nimmst. Es ist ein Rätsel welches wahrscheinlich nur mit deiner Hilfe geknackt werden kann.<<

Aufrichtig hörte ich Kitamura zu. Seine Worte klangen in meinem leeren Kopf wie Tropfen die sich von der Decke einer Höhle lösten und zu Boden fielen. Jede Einzelne Silbe erreichte mich. Er besaß ein außerordentliches Talent zu reden. Wenn er gewollt hätte, hätte er eine Studentenbewegung gründen können die einzig und allein auf das hörte was er ihnen sagte. Sie wären ihm wahrscheinlich ohne auch nur eine Frage zu stellen überall hin gefolgt.
>>Versprochen<<, gab ich ein wenig verdutzt zurück. Anschließend setzte er wieder ein charmantes Lächeln auf. Seine rechte Hand suchte etwas in seiner Schreibtischschublade. Kurze Zeit später fischte er einen mittelgroßen Briefumschlag raus. Es sah aus als wurde er bereits einmal geöffnet.
Er überreichte ihn mir. Genau so wortlos wie Kitamura ihn mir überreichte, nahm ich ihn an. Er war adressiert an Makoto Kitamura, und unverkennbar gehörte diese Handschrift Alessia.
>>Was befindet sich da drin?<<, fragte ich ein wenig ängstlich.
>>Dies ist das Rätsel wovon ich sprach. Da Alessia ein Mensch der Perfektion war konnte sie es problemlos abschätzen wann ich mein Postfach besuchen würde. Ich fand den Umschlag zwei Tage nach ihrem Tod in meinem Postfach. Ich wusste erst nichts damit anzufangen. Die Handschrift war mir jedoch bekannt. Die Hiobsbotschaft einer Toten, dachte ich mir während ich die ganze Zeit mit mir haderte den an mir adressierten Briefumschlag zu öffnen. Glaub mir Leon, für einen gläubigen Menschen wie mich, der brav zweimal Täglich einige buddhistische Sutren aufsagt, ist dies nicht so leicht. Zumal mich Alessias Tod ziemlich mitgenommen hat. Ich entschied mich jedoch dazu den Briefumschlag zu öffnen. Doch die paar Dokumente, und die Bitte, diese an dich weiterzugeben, ergeben für mich keinen Sinn. Vielleicht wirst du es ja verstehen. Was sich da drin befindet könnte man also tatsächlich als ein Vermächtnis bezeichnen. Ich möchte, dass wir dieser Sache zusammen nachgehen.>>
>>Ich weiß gerade nichts damit anzufangen. Glaubst du mir, dass ich gerade denke das ich mehr träume, als überhaupt hier, in deinem Zimmer, in der Realität anwesend zu sein? Um was für Dokumente handelt es sich?<<, bat ich Kitamura um Erklärung.
>>Ich will es nicht unbedingt unnötig mystisch erscheinen lassen, aber Bitte öffne den Umschlag erst, wenn du deine Ruhe hast. Die wirst du brauchen.<<
>>Gut. Dann werde ich mich gleich auf den Heimweg machen und den nächsten Zug nach Dortmund nehmen.<<

>>Kommt nicht in Frage! Übers Wochenende wirst du hier in Düsseldorf bleiben. Du wirst nicht in eure gemeinsame Wohnung nach Dortmund zurückkehren. Du brauchst Ablenkung und Entspannung. Außerdem können wir uns hier in Düsseldorf öfter sehen.<<
>>Aber ein Hotelzimmer kann ich mir momentan unmöglich leisten<<, gab ich enttäuscht zurück.
>>Auch dafür habe ich gesorgt. Übers Wochenende kannst du bei einer guten Freundin von mir übernachten. Nimm die japanische Gastfreundschaft an. Alles in ihrem Apartment wird dir zur Verfügung stehen. Sie wird erst am Sonntag wiederkommen, ich habe bereits alles mit ihr besprochen. Das Apartment ist gerade mal ein paar Straßen von hier entfernt.<<


Wird fortgesetzt.

Soundtrack:
Silversun Pickups- Growing Old is getting Old


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