Montag, 25. Juli 2011

Der Anfang vom Anfang: Kapitel 1

 
 


ぼんやりとした不安
(Bon'yaritoshita fuan)

Kapitel 1: Der Anfang vom Anfang


Juli-August 2010

Das Begräbnis fand an einem quälend heißen Juli Freitag im Jahr 2010 statt. Bereits der Vormittag ließ mich unter meinem Jackett schwitzen.
Ihre letzte Ruhe fand sie auf einem katholischen Friedhof in Düsseldorf. Ich war damals dreiundzwanzig und war zuvor noch nie auf einer Beerdigung. Zugleich war es auch noch meine Verlobte, die ich zu Grabe tragen musste.

Alessia war zwanzig Jahre alt als sie ihr Leben selbst beendete. Die Gründe dafür waren mir zu dem Zeitpunkt ihres Begräbnis noch gar nicht klar. Sie beging Selbstmord und konnte mir gewiss keine Antwort mehr darauf geben, welche Beweggründe sie dazu führten. Erst wesentlich später wurde mir bewusst, dass ihr Leben ein riesiges Puzzle war. Obwohl wir uns seit der Grundschule kannten, eine Sandkastenliebe führten, war mir diese Frau eigentlich völlig fremd. Das Vermächtnis das sie hinterließ war abstrakt und beinahe unwirklich.

Circa 60 Leute erschienen auf Alessias Begräbnis. Darunter ihre Familie, Freunde, Kommilitonen aus ihrer Uni, ihr Dozent und ein völlig verwirrter (Ex)Verlobter. Ich trug ein schwarzes Jackett und darunter ein kurzärmliges, ebenfalls schwarzes Hemd. Eine schlichte Jeans und weiße Sneaker rundeten mein Outfit ab. Das Wetter brachte mich dazu zwei Knöpfe meines Hemdes zu lösen.
Der Priester begann pünktlich seine Predigt und rasselte die übliche Leier runter. Ich hörte nicht hin. Ich konzentrierte mich viel mehr auf die Umgebung. Ich lauschte dem kaum vorhandenen Wind der sanft durch die Bäume wehte. Es war ein warmer Wind. Ich fühlte mich seltsamerweise geborgen und musste selbstverständlich dabei zwanghaft an Alessia denken. Meine Blicke trafen die saftigen Wiesen und die vielen verschiedenen Gräber. Ich war umgeben von hunderten, unerzählten Geschichten und Schicksalen die sich tief unter der Erde befanden. Dabei war ich mir ganz sicher, dass jeder verstorbene auf diesem Friedhof, seine ganz persönliche Geschichte zu erzählen hatte. Nun würde auch Alessia zu den vielen Seelen gehören, die noch eine unvollendete Geschichte zu erzählen hat, sprach die Stimme meines Unterbewusstseins zu mir.

In meiner Träumerei vertieft, bemerkte ich nicht wie der Priester seine Predigt bereits beendet hatte. Eine kräftige Hand drückte meine Schulter. Ich zuckte kurz zusammen um anschließend auf diese Geste zu reagieren. Es war Kitamura, Gastdozent an der Universität an der Alessia studierte. Alessia studierte zusammen mit ihrer Besten Freundin Japanologie. Japan..... ihre große Leidenschaft. Sie war nahezu besessen von diesem Land und dessen Kultur. Kitamura hingegen studierte Germanistik und kam direkt von einer Tokioter Universität nach Deutschland. Sein damaliger Professor schrieb eine Empfehlung an einen Kollegen aus Deutschland. Diese Gelegenheit konnte er sich selbstverständlich nicht entgehen lassen. Kitamura war Mitte dreißig und lies seine Familie in Tokio zurück. Besser gesagt, sie wollten nicht mit. Sein Vertrag war vorerst befristet bis 2011. Er war für einen Japaner recht groß, um die 1,80 Meter. Er war braungebrannt und trug zu seinem gepflegten, mittellangen Haar immer diesen Dreitagebart. Er war stets gut gekleidet und ähnelte ein wenig dem japanischen Schauspieler Masaya Kato. Kitamura war natürlich der Blickfang bei den Mädchen in den Hörsälen. Alessia nahm mich mal zu einigen Vorlesungen mit. Er unterrichtete japanische Geschichte und Literatur. Er sprach beinahe akzentfrei deutsch und machte die Vorlesungen durch seine sympathische Art zu einem Erlebnis. Alessia verstand sich gut mit ihm und stellte mich ihm vor. Wir kamen ins Gespräch, und fortan sah ich Kitamura wohl mit den gleichen Augen, mit denen ihn auch die Mädchen in den Hörsälen sahen (nur das ich natürlich nicht in ihn verliebt war).

>>Wusstest du das Akutagawa einer ihren ganz großen literarischen Vorbilder war?<<, fragte mich Kitamura, der nun neben mir stand.
>>Nein. Ehrlich gesagt, ich kenne diesen Akutagawa gar nicht. Wieso sprichst das das nun hier an, Makoto?<<

Wir beide hielten unsere Blicke weiter auf die Geschehnisse vor uns gerichtet, und warteten ab was wohl als nächstes passieren würde, nachdem der Priester seine Predigt beendet hatte. Kitamura jedoch setzte unser Gespräch fort.

>>Ryunosuke Akutagawa gehörte zu den einflussreichsten und modernsten japanischen Schriftstellern zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Er war ein Genie. Ein Dichter und Essayist. Doch die Gesellschaft, so hieß es, trieb ihn in den Wahnsinn. Akutagawa verfiel fürchterlichen Halluzinationen. Er nahm sich im Alter von fünfunddreißig Jahren das Leben. Das war 1927. Die Gesellschaft hat sich nicht geändert, auch nicht dreiundachtzig Jahre später. Ganz im Gegenteil.<<
>>Darauf willst du also hinaus<<, sprach ich emotionslos und schaute Kitamura dabei ins Gesicht.
>>Du kanntest ihre Faszination zur gesamten japanischen Kultur. Sie verehrte Akutagawas Werke. Ich will damit nicht sagen das sie sich hineinsteigerte. Aber ich hätte etwas bemerken müssen. Doch das wollte ich dir eigentlich nicht mitteilen. Ich möchte das du mich nach der Trauerfeier begleitest und kurz zu mir in meine Wohnung kommst. Ich werde deine Zeit nicht länger in Anspruch nehmen als nötig. Du machst nun einiges durch. Aber du bist erst am Anfang. Ich werde dir etwas zeigen was dir weitere Prüfungen aufbürdet. Ich wünschte ich könnte dich davor bewahren. Aber es kommen Ereignisse ins Rollen, weißt du, da gerate ich selbst an die Grenzen meines Verstandes.<<

Kitamura meinte es ernst. Er gehörte dem Buddhismus an und lebte streng nach dessen Regeln. Sein Mitgefühl mir gegenüber war absolut ehrlich und aufrichtig.

>>Einverstanden. Nach der Trauerfeier begleite ich dich. Diese Gesellschaft hier ertrage ich sowieso nicht.<<

Anschließend verfolgten wir weiter, die Blicke nach Vorne gerichtet, was nun passieren würde. Bis auf Alessias Freunde aus ihrem Studium, ging mir ihre komplette Familie, um es passend auszudrücken, am Arsch vorbei. Ihre Eltern waren arrogante Ex-Yuppies die wahrscheinlich noch weniger als ich selbst von ihrer eigenen Tochter wussten. Ihre Mutter brach ständig zusammen und klammerte sich an ihren Mann. Er selbst hingegen war der gleiche Eisblock wie immer. Von allen Seiten war ein Schluchzen oder Seufzen zu hören. Alessias beste Freundin Irène ist zwei Tage zuvor zusammengebrochen und lag noch zur Beobachtung im Krankenhaus. Obwohl sie sich weigerte, hielten es die Ärzte und ihre Familie für geeigneter wenn sie nicht zum Begräbnis erscheinen würde. Die beiden waren immerhin unzertrennliche Freunde seit der Realschule.

Was meine Person jedoch anging, könnte man sagen, dass ich nahezu teilnahmslos dastand. Als ob ich das Begräbnis einer flüchtigen Bekannten besuchen würde. Ich empfand weder Emotionen noch Trauer. Für mich würde sich nach diesem Begräbnis nichts ändern. Ich würde in unsere Wohnung zurückkehren, wo Alessia auf mich im Bett wartete. Die Nacht verbrachte sie wieder mit Romanen japanischer Autoren und schlief bis in den Nachmittag hinein. Ich würde sie in die Arme nehmen und küssen. Gemeinsam verharren wir in dieser Position eine Weile. Danach würde sie mich mit ihrer sanften Stimmen fragen, ob das Begräbnis sehr traurig war. Ich hingegen würde antworten, dass ich recht teilnahmslos dastand weil mir der persönliche Bezug zu dieser Person fehlte. Alessia würde sich an mich schmiegen und wieder einschlafen.

Eine lange Zeit, während ich auf den Sarg blickte, fragte ich mich wer da eigentlich drin liegen würde. Nur in ganz seltenen Augenblicken wurde mir bewusst, dass sich in diesem Sarg aus Eichenholz, meine ehemalige Verlobte befand. In diesen Momenten wurde mir klar das Daheim niemand auch mich wartete. Alessia war also gar nicht weit von mir entfernt.

Doch eine gewisse Situation rüttelte mich wach. Es war die Situation als ein elektronischer Mechanismus Alessias Sarg ganz langsam in die Erde fuhr. Dabei wurde ein Song gespielt den sie liebte. Sie sagte mir immer, sobald sie dieses Lied höre, würde sie an mich denken. Vielleicht war es nicht von Bedeutung für mich, aber ich fragte sie nie wieso das eigentlich so war, dass sie dabei andauernd an mich denken musste. Dieses Stück heißt Skies Of Love und war Teil des Soundtracks einer bekannten Animationsserie die Ende der achtziger bis Mitte der neunziger im japanischen Fernsehen gezeigt wurde. Es war eine Weltraumoper mit dem Titel Legend Of The Galactic Heroes. Ich konnte mich nie für sie begeistern.
Als die Melodie ertönte fühlte ich mich als hätte die Faust eines Klitschkos meinen Verstand erwischt. Sie prügelte mich förmlich durch alle Winkel meiner Traumwelt und beförderte mich in die traurige wie hoffnungslose Realität zurück. Die Personen die während der Melodie nicht in Tränen ausbrachen, richteten ihre Blicke auf mich. Ich stand völlig verdutzt da. Ich realisierte mit einem Mal das ich Alessia nie wiedersehen würde. In diesem Moment dachte ich an Leland Palmer aus der Serie Twin Peaks. In der gleichen Situation sprang er auf den Sarg seiner Tochter Laura, um zu verhindern, dass dieser den Boden der tiefen Grube erreichte. Er versuchte es mit aller Macht, bis das Gewicht den Mechanismus durcheinander brachte und außer Kontrolle geriet. Es war ein bizarrer Anblick für alle Anwesenden. Natürlich war der Gedanke an Twin Peaks völlig fehl am Platz. Doch diese Szene brannte sich förmlich in meinen von Klitschkos Faust geprügelten Verstand ein. Selbstverständlich behielt ich die Fassung. Und selbst wenn ich wie Leland Palmer ausgeflippt wäre, Kitamura hätte es irgendwie geschafft mich davon abzuhalten wie ein Irrer auf den Sarg zu springen. Stattdessen spielte sich alles weiter in meiner Phantasie ab. Doch ich war so klar wie in keinem anderen Moment an diesem Vormittag. Ich sog völlig konzentriert den Text des Songs in mich ein:

I look above the stars
are bright
Yet I'm blinded by you‘re light
Heaven seems so far away
Come back to me someday
The sky seems so blue
They lead me to you

Nie zuvor nahm ich den Text des Liedes so wahr wie an diesem Tag. Ich musste schwer schlucken und mit den Tränen kämpfen. Ich konnten ihnen jedoch nicht einfach freien lauf lassen. So ironisch es auch klingt, dies war der falsche Ort dafür. Es war ihr Wille (so stand es in ihrem Abschiedsbrief) das dieses Lied gespielt wird. Gerne hätte ich einen anderen Titel gewählt.
Der Sarg war fast komplett eingefahren. Der Klang dieses Songs erweckte den Anschein das wir vor versammelter Gemeinschaft der Nationalhymne lauschten und unserem Land seinen Tribut zollten. Alessias Mutter brach nun endgültig zusammen und kniete nun auf dem Boden. Ihr arroganter Mann war so mit sich selbst beschäftigt das er den Zustand seiner Frau überhaupt nicht wahrnahm. Erst ein mir unbekannter junger Mann verhalf ihr hoch damit sie wieder aufrichtig stehen konnte. Es war dieser junge Mann der sie auch weiterhin stützte, und nicht ihr Ehemann.
Alles kam mir vor wie ein völlig irrealer Traum. Plastisch und unwirklich. Schwarz gekleidete Menschen wohin ich sah. Fremde Personen die ich nie zuvor gesehen hatte. Lediglich Kitamura war mein Anker. An ihn konnte ich mich klammern.

So plötzlich es begann, endete das Begräbnis. Kitamura, die Kommilitonen und Ich verzichteten auf die Trauerfeier und entschieden uns dazu persönlich in seiner Wohnung ein paar Gläser auf Alessia zu heben. Der Gesellschaft auf dem Begräbnis würdigte ich keinerlei weitere Blicke. Ich wollte diesen Ort einfach ohne weitere Zwischenfälle verlassen. Bereits in den kommenden Stunden würde mir Kitamura etwas überreichen das mein Leben komplett verändern würde. Ereignisse würden entfacht und eine Geschichte ins rollen gebracht werden, die für mich noch Heute, zwölf Jahre später, absolut unbegreiflich ist. Es war eine Zeit die mir genau so traumhaft und unwirklich erschien wie das Begräbnis. Doch bleibt mir Heute keine andere Wahl diese Zeit als die Realität anzuerkennen.

Ende Kapitel 1


Soundtrack:
Skies of Love (L.o.T.G.H. Soundtrack)


7 Kommentare:

  1. Da habe ich deinen Blog ja doch noch gefunden!
    Sehr mysteriöser Anfang, der mir gut gefällt. Die Personen wirken alle sehr eigen, aber das macht sie gerade so interessant.
    Die nächsten Kapitel kommen hoffentlich bald und zusätzlich noch mehr Leser!

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  2. Du hast ja schon vorher hier her gefunden ;D
    Bin gerade dabei den Blog auf Am Meer ist es wärmer vorzustellen.

    Es freut mich ungemein Salvo das du meine Geschichte verfolgst. Ich muss den weiteren Text noch etwas bearbeiten, hoffe aber das ich Morgen noch was neues posten kann, weil ich für einige Tage wegfahre.

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  3. Oh, das ist spannend.. Was wird er wohl bekommen?
    Ich freue mich schon auf Teil 2^^

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  4. Ich will später den korrigierten zweiten Teil Online stellen. Also Kapitel 2.1 =)
    Weiter gehts dann wenn ich aus Bonn von der Animagic wieder da bin.

    Freut mich das du dabei bist Mikage =)

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  5. Freue mich drauf^^
    Und viel Spaß auf der Ani! Bonn hab ich leider nicht mehr miterlebt.. Nur Koblenz, das war immer toll^^

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  6. Manchmal bin ich etwas vorschnell ^^
    Dann an dieser Stelle viel Spaß auf der Animagic.

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  7. Danke euch zwei =)
    In Koblenz war ich nie, wobei viele immer noch von diesem Schloss reden was ja als Veranstaltungsort diente.

    Leider verschiebt sich meine Reise unfreiwillig um einen Tag. Durch den ganzen Stress hier werde ich es erst Montag schaffen einen neuen Teil Online zu stellen.

    Schönes Wochenende euch beiden =)

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